Nietzsche’s Kritik am klassischen Moralverständnis

Nietzsches Ausschnitt „Zur Naturgeschichte der Moral“ aus seinem Werk „Jenseits von Gut und Böse“ lässt sich als, zwar literarisch hochwertiger, aber außerordentlich polemischer Rundumschlag gegen das damals gängige Moralverständnis und die damit verbundenen philosophischen Theorien verstehen.
Dabei attackiert Nietzsche unter anderem das Christen- und das Judentum, Platon, Arthur Schopenhauer, Immanuel Kant, Demokratie und Sozialismus aufs Schärfste und wirft ihnen vor, sich nicht kritisch genug mit dem Begriff von Moral auseinandergesetzt zu haben. Folgerichtig versucht Nietzsche nicht den gleichen Fehler zu begehen, nämlich ein absolutes Moralprinzip aufzustellen. Stattdessen untersucht er in erster Linie lediglich die Entstehung von moralischen Systemen.
Aktuelle philosophische Schulen degradieren laut Nietzsche den Menschen vom frei denkenden Individuum zum folgsamen Herdentier und sind deshalb abzulehnen.

Nietzsche beginnt seine Kritik gleich mit dem Begriff „Wissenschaft der Moral“1 selbst (S. 105). Obwohl noch eine „junge, anfängerhafte [und] plumpe“ Wissenschaft, sei der Begriff viel zu hochmütig und setze sich weit über seine Aufgaben hinaus. Die Aufgabe der Moralwissenschaft sei es laut Nietzsche lediglich, Material zum Thema zu sammeln, dieses zu ordnen und sowohl begrifflich als auch im Hinblick auf die [weltlichen] Ursachen zu definieren. Nietzsche nennt dies „Typenlehre der Moral“ (S. 105).
Die von ihm attackierten Philosophen jedoch hätten darüber hinaus in ihrem Narzissmus versucht, Moral selber zu begründen, und zwar jeder mit einem (falschen) Absolutheitsanspruch. So erkennen Sie nicht, dass es viele unterschiedliche Moralen gibt. [Die Existenz von] Moral selber in Frage zu stellen, hätten alle selbst ernannten Wissenschaftler vor Nietzsche kläglich versäumt.
In der Folge bekommen die bekanntesten Philosophen seiner Zeit der Reihe nach ihr Fett weg. Nietzsche beginnt mit Schopenhauer, den er als „unschuldigen Flötisten“ karikiert, der sich vergeblich an den bekannten – und laut Nietzsche komplett falschen – Grundsatz „neminem laede, immo omnes, quantum potes, juva“ klammert und damit seine Berechtigung als wahrer Pessimist komplett konterkariert.
Als nächstes gerät, stellvertretend für die Motivation früherer Philosophen, Immanuel Kant ins Kreuzfeuer. Nietzsche erörtert, dass die Grundlage für „Moralen“ häufig bloß ein Mitteilungsanspruch der Philosophen selber ist – eine „Zeichensprache der Affekte“ -, in Kants Falle sei es das selbstverliebte In-den-Mittelpunkt-rücken eigener Qualitäten als Leitsatz für andere Menschen.
Ferner sei es jeder Moral zu eigen, dass sie als „ein Stück Tyrannei gegen die Natur“ (S. 108) die „Unfreiheit des Geistes“ (S. 109) manifestiere. Zur Bewertung dieses Arguments bedürfe es freilich der aus einer Moral abgeleiteten Bestätigung, dass „alle Art von Tyrannei und Unvernunft unerlaubt sei“. Diese bleibt konsequenterweise (?) im Folgetext aus.
Stattdessen kritisiert Nietzsche die Voreingenommenheit und „Dummheit“ der früheren Denker, die stets nur „zu beweisen versuchten“ und damit das Ergebnis ihrer Untersuchungen bereits vorweg nahmen. Insbesondere das Christentum, das alles „zu Ehren Gottes“ untersuchte und dabei dessen Existenz und das Vorhandensein eines Himmelreichs unkritisch voraussetzte, sei hier zu erwähnen.
Dieses „von selbst auf ein Ziel Zugehen“ (S. 112) liegt begründet in der Zeit Platons, der, beeinflusst von der „irrationalen Theorie Sokrates’“ mit aller Kraft versuchte, dass „Vernunft und Instinkt von selbst auf ein Ziel zugehen; auf das Gute“. Damit legte er den Wegweiser für alle fehlgeleiteten Philosophen und Theologen, die anstatt Wissen den Glauben – oder wie Nietzsche es nennt, den Instinkt bzw. Herdentrieb – in den Mittelpunkt rückten.
Im Grunde klammern wir uns nur aus Schwäche, nämlich eben wegen des oben genannten Herdentriebs, an die diesseitige Moral oder eine Vorstellung von Jenseits. Wir belügen uns und unseren Verstand selber, indem wir uns imaginär über unsere sklavische Folgsamkeit erheben und uns eine fiktive Welt konstruieren, in der wir uns moralisch überlegen oder (im Jenseits) als „Herrscher“ fühlen können.
Auf Grund unserer Mittelmäßigkeit und Abhängigkeit überlegen wir uns Theorien, an denen wir uns festhalten können und denen wir gehorchen können. Dieser Herden-Instinkt des Gehorsams ist tief im menschlichen Inneren vorhanden; sogar bei den meisten vermeintlichen Führern — schließlich fühlen auch diese sich als Heuchler nur einem älteren oder höheren Befehl verpflichtet, wie zum Beispiel dem Gottes, dem der Vorfahren oder dem der Gesetze.
Woran es fehlt sind unabhängige, frei denkende Führer, die der Welt ihren Stempel aufdrücken und ihre Bedingungen für das Handeln durchsetzen. Solche Führer sieht Nietzsche beispielsweise in Napoleon, Caesar oder Leonardo da Vinci. Sie entstehen, wenn die – durch eine stark vermischte Herkunft – innere Zerissenheit nicht wie bei der Mehrheit der Menschen zu einem Sattheits- und Ruhebedürfnis führt, sondern zu Antriebslust und Lebensreiz.
Auch Nietzsches Herdentrieb hat seine Ursachen, sie liegen in der „Furcht vor dem Nächsten“ und – wie in einem Teufelskreis – im Herdentrieb selber. Die Furcht vor dem Nächsten führt dazu, dass alles, was ein Individuum aus der breiten, mittelmäßigen Masse hervorhebt, verteufelt wird; und das wiederum – absolut gesetzt als „Wissen, was Gut und Böse ist“ (S. 124) – zementiert das Fehlen an Selbst-Verantwortlichkeit. Deshalb kommt Nietzsche zu dem Schluss, dass Moral „in Europa Heerdenthier-Moral [ist]“ (S. 124).
Massiv unterstützt durch das Christentum manifestiert sich diese schlechte Herdentiermoral in Form von Demokratie als Herrschaft der Herde; oder noch schlimmer, im Sozialismus; in dem es noch nicht mal „Herr und Knecht“, sondern nur noch eine tumbe Einheit gibt. Eins haben alle drei, Demokratie, Sozialismus und Christentum, gemeinsam, nämlich das schmeichlerische Trostmittel „der Ablösung aller Schuld“ durch die Erlöserin „Gemeinschaft“.

Nietzsche sieht in diesem unerbittlichen Herdentrieb den Verfall der Gesellschaft und des Menschen an sich. Er wiederholt die Forderung nach einem Führer, der die Menschheit prägt und in der Lage ist, das aus dem Menschen heraus zu züchten, wozu er in der Lage ist. Selbst auf die Gefahr hin, dass dieser Führer „kippt und entartet“, ist das Verlangen nach einem starken Führer immer noch überlegen gegenüber der Alternative; nämlich der Entwicklung, bzw. „Entartung und Verkleinerung“ des Menschen zum vollkommenen Herdentier, wie es beispielsweise der Sozialismus fordert.

Dabei ist es absolut zynisch, wie gnadenlos die Geschichte Nietzsche als falsch bewiesen hat. Während sich das Aufkommen von Führern wie Hitler, Stalin oder Mussolini als größtes Übel der jüngeren Menschheitsgeschichte herausgestellt hat, war es gerade die von Nietzsche geschmähte Demokratie, die sich als fortschrittliches und wohlfahrtsbringendes System durchgesetzt hat. Purer Sarkasmus der Geschichte ist es auch, dass eben unter der Herrschaft jener grausamen Führer Nietzsches Werk selbst entartete und sich, verdreht, fehlinterpretiert und manipuliert, größter Beliebtheit erfreute.

Quellen

Ein Gedanke zu „Nietzsche’s Kritik am klassischen Moralverständnis

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

*